Zeit ist seltsam. Manchmal verfliegt sie und manchmal nicht.
Als das Internet erfunden wurde, war ich Achtzehn. Das war 1993, es war eine aufregende Zeit, schließlich war ich Achtzehn, und wenn man Achtzehn ist, dann vergeht die Zeit noch nicht so schnell wie heute. Außerdem wurde das Internet erfunden. Außer, dass das gar nicht stimmt. Das Internet wurde nämlich schon ein paar Jahre vorher erfunden, und zwar von mir. Beziehungsweise von mir und meinem Zwillingsbruder, er ist vier Minuten jünger als ich, biologisch mein genetischer Klon, aber trotzdem mein bester Freund, aufgewachsen sind wir in einem Reihenhaus in Bielefeld. Wenn man das Wort „Bielefeld“ hört und sagt „Bielefeld gibt’s doch gar nicht“ finde ich das ungefähr so lustig wie deutsche Sitcoms. Noch lustiger finde ich die Vorstellung, wie viele Leute gerade „Bielefeld gibt’s doch gar nicht“ gedacht haben und jetzt wahrscheinlich schmunzeln. Aber zurück zum Thema, wir haben schließlich keine Zeit. Jedenfalls haben mein Zwillingsbruder und ich das Internet erfunden, während wir mit Acht oder Neun in unserem Etagenbett lagen, beim Einschlaf-Talk zwischen oben und unten, die Idee war ein kleiner Bildschirm, der alles kann und alles weiß. Dem man Fragen stellen kann und der auf Kameras zugreifen kann auf der ganzen Welt. Das Ding ist gleichzeitig Schreibmaschine, Telefon und Computer, man kann damit Nachrichten senden, Rätsel lösen und Fernsehsendungen schauen. Egal zu welcher Zeit. Wenn ich damals gewusst hätte, dass meine Erfindung ein paar Jahre später relativ erfolgreich wird, hätte ich mich vielleicht ein bisschen mit Patentschutz beschäftigt, hab ich aber nicht. Ich weiß auch bis heute nicht, wer mir meine Erfindung geklaut hat, es muss jemand gewesen sein, der uns abgehört hat, vielleicht die NSA, aber gab es die überhaupt schon, bevor es das Internet gab, oder habe ich die damals, ohne dass ich das wollte, einfach miterfunden? Man weiß es nicht. Und die Zeit vergeht.
Ich sitze wieder vor dem Damensalon, Menschen schlendern auf dem Kopfsteinpflaster an mir vorbei, und hin und wieder summt mein iPhone 4, weil es eine Nachricht empfängt. Die die mich kennen, stutzen jetzt. Zu Recht. iPhone 4? iKnow! Mein iPhone 6 wurde mir geklaut, vor zwei Wochen, ich saß am Maybachufer mit Frau und Freunden vor einem Restaurant und ertappte mich bei einem schlechten Gewissen, weil ich dem Bettler kein Kleingeld gab, dabei sagte er mir sogar auf dem Blatt Papier, das er mir unter die Nase hielt, dass es ihm schlecht ging. Er brauchte Hilfe. Als er weg war, ging es mir schlecht. Und ich brauchte Hilfe. Denn nicht nur war der Bettler weg, sondern auch mein iPhone 6. Im Herbst habe ich als Telekom-Kunde wieder Neugerätanspruch, bis dahin friste ich ein armseliges Dasein mit dem vorsintflutlichen iPhone 4. Dem „Klotz“, wie ich es liebevoll nenne. Es ist schlimm. Aber was ist schlimmer? Die Rechenleistung vom Klotz, oder die Tatsache, dass man es schlimm findet, dass ein 9 Millimeter flacher Hochleistungscomputer, der in Nanosekunden Daten ins All schickt, während er HD Filme dreht und Serien streamt, eine halbe Sekunde braucht, um das Mailprogramm zu öffnen… Stopp! (hier epischen Filmscore einspielen): Kleiner Bildschirm! Telefon! Computer! Kamera! – Es ist wie die Szene aus dem Pixar-Film, in der eine Gabel Ratatouille den Restaurantkritiker zurück in seine Kindheit beamt. Mein iPhone 4 klingelt, und ich liege wieder im Etagenbett. Ich bin Acht und habe gerade die Zukunft erfunden, die jetzt vor mir mit jedem Vibrationsalarm ein Stück weiter Richtung Tischkante treibt. Ich nehme das Telefon und schaue aufs Display, es ist mein Zwillingsbruder, er ist gerade mit seiner Familie im Wohnmobil auf dem Weg durch die Staaten, und mit einem Mal wird mir klar, dass Zukunft und Vergangenheit verbunden sind. Aber bevor es jetzt zu pathetisch wird:
Das iPhone 4 ist scheiße. Ich will, dass Herbst ist, dann erscheint das iPhone 6s. Und ich will, dass endlich 16:00 Uhr ist, dann fliege ich nämlich nach Köln. Mit einem guten Freund. Um über die Zukunft zu philosophieren und über die Vergangenheit. In Kneipen von früher. In denen wir viel Zeit verbracht haben.
Zeit, die manchmal viel zu schnell vergeht.